Disziplin / Selbstdisziplin
von Valerie Fitzenreiter

"In einer freien Demokratie wie der unsrigen setzen wir Worte als Argumente ein, nicht Schläge...
Wenn wir Kinder nicht mit Worten überzeugen können, werden wir sie auch nicht mit Gewalt überzeugen."
(Mitglied des schwedischen Parlaments)

In einer Familie, in der ein Kind frei ist, in seinem eigenen Tempo zu wachsen und zu lernen, ist Disziplin ein unwillkommener Eindringling in das Leben der Familienmitglieder und vollkommen unnötig. Ich bin mir der Wirkung bewußt, die diese Aussage auf die Erwachsenen in den meisten traditionellen Familien haben wird. Sie stellen sich wild gewordene Kinder in einer chaotischen und unkontrollierten Umgebung vor, die alles durcheinander bringen und überall Unordnung stiften. Sie werden möglicherweise Visionen von sich selbst haben, wie sie sich geschlagen geben und sich auf das Sofa fallen lassen, während Schüsseln mit Essen quer durch den Raum fliegen und Spielzeug überall verstreut ist.

In Wirklichkeit ist es wahrscheinlicher, dass dieses Szenario sich in einer Familie abspielt, in der strikte Disziplin durchgesetzt wird. Kinder, die in einer disziplinierten Familie leben, sind daran gewöhnt, ihre Gefühle zu unterdrücken, und es gibt selten ein Kind, dass nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben durchdreht oder sich völlig zurückzieht aufgrund der Verdrängung. Die Rebellion gegen diese Art von Kontrolle drückt sich im Verhalten der meisten Teenager aus. Die Rebellion ist auch im Kleinkindalter gegenwärtig, aber für die Eltern ist es einfacher, Macht über die kleineren Kinder zu haben, schlicht bedingt durch ihre Körpergröße. Kommt ein Kind dann in die Pubertät und ist beinahe gleich groß wie seine Eltern, wird es zu einem aufsässigen Teenager und körperliche Gewalt ist oft die Folge. Zu diesem Zeitpunkt haben die Eltern tatsächlich "die Kontrolle verloren".

Die Abwesenheit von Disziplin in einer Familie bedeutet nicht, dass es an Ordnung mangelt. Es bedeutet, dass Menschen aller Altersstufen in einer Familie die Freiheit haben zu entscheiden, was ihnen wichtig ist, und sie werden für ihre Entscheidungen nicht bestraft. Wenn ein Kind frei ist zu tun, was es möchte, trifft es im Regelfall weise Entscheidungen. Solange es sich selbst oder andere nicht in Gefahr bringt, sollte ihm erlaubt werden zu tun, was ihm gefällt. Ich sage nicht, dass Erwachsene zusammengesunken auf dem Sofa sitzen sollten, während Schüsseln voller Essen durch die Luft fliegen, aber in Familien, in denen Disziplinarmaßnahmen auf ein Minimum beschränkt sind, fliegen keine Schüsseln.

Wenn wir keine Disziplinarmaßnahmen anwenden, lernt das Kind sich selbst zu disziplinieren. Selbstdisziplin ist nicht etwas, das über Nacht geschieht. Es braucht viele Jahre des Stillbleibens und des geduldigen Wartens unsererseits bis es etwas selbst herausfindet. Manchmal ist es sehr schwierig zu schweigen, wenn man sieht, wie das Kind etwas tut, das es später noch einmal wird wiederholen müssen, aber wenn man standhaft bleibt und es den "Fehler" machen lässt, wird es daraus etwas lernen und das nächste Mal einen anderen Weg ausprobieren. Natürlich spreche ich nicht über etwas, das ihm oder anderen Schaden zufügen würde. Man lernt mehr aus Misserfolgen als aus Erfolgen, und wenn ein Kind seine eigenen Fehler machen darf ohne spottende Kommentare zu ernten, wird es seine Fehler selbst korrigieren und sich dann etwas anderem zuwenden.

Wenn ein Erwachsener einem Kind immer über die Schulter schaut und ihm sagt, was es tun soll, wird es nie lernen selbst Entscheidungen zu treffen. Manchmal haben wir keine Lust zu warten, bis es sich entschieden hat, aber wenn wir in diesen Momenten Geduld aufbringen, hat es Gelegenheit, mehr Erfahrung im Treffen von Entscheidungen zu sammeln. Ihre Zustimmung zu seiner Persönlichkeit und seinen Entscheidungen zeigt dem Kind, dass Sie es aufrichtig lieben und an es glauben. Es wird Zeiten geben, wo Ihr Kind eine Entscheidung trifft, die nicht sehr weise ist. Wenn es Sie nicht um Ihren Rat bittet, ist es am besten nichts zu sagen und es aus seinem Fehler lernen zu lassen ohne es zu verspotten.

Was hat es mit Disziplin zu tun, wenn wir ein Kind Entscheidungen treffen lassen? Disziplin ist nur wenig maskierte Kontrolle. Ein Erwachsener möchte, dass ein Kind sich auf eine bestimmte Weise verhält, und wenn es dies nicht tut, wenden die Eltern Disziplinarmaßnahmen an oder bestrafen es, damit es sich nicht wieder "daneben benimmt". Mehr Regeln werden aufgestellt, mehr Regeln werden gebrochen und mehr Strafen werden ausgeteilt. Ein Teufelskreis beginnt, der den Eltern ein falsches Gefühl von Macht über das Kind vermittelt. Ich sage, dass die Macht falsch ist, weil ein Kind letztendlich tun wird, was es tun möchte, ob es nun bestraft wird oder nicht. Es wird einfach unaufrichtiger werden und lernen besser zu lügen und zu verstecken. Erwachsene können sich entscheiden, Stärke und Unabhängigkeit nicht als schlechtes Benehmen zu deuten; statt dessen können sie das Kind ermutigen, seinen eigenen Kopf zu haben. Ein weiser Erwachsener wird realisieren, dass die wahre Macht darin liegt, die Macht und die Kontrolle aufzugeben und das natürliche Lernen im Leben der Familie willkommen zu heißen.

Es gibt genügend Regeln und Vorschriften, die unser Leben regieren, ohne dass wir innerhalb der Familie noch mehr aufstellen. Alle Familienmitglieder sollten das Zuhause als sicheren Platz erleben, fern von Herumspioniererei, Hass, Vorherrschaft und Beurteilung. Wenn ein oder beide erwachsene Mitglieder der Familie Regeln aufstellen, welche die anderen Familienmitglieder befolgen müssen, gibt es keine Gerechtigkeit und über kurz oder lang wird es eine Art Meuterei geben. Manchmal weigern sich Erwachsene, dies als Meuterei zu sehen; statt dessen sehen sie es als "Kinder, die nicht hören können", wenn sie es überhaupt merken. In zu vielen Familien wird die Meinung eines Kindes nicht erhört und ist unerwünscht; das Kind fühlt sich dadurch unwichtig, was es wiederum in die Rebellion treibt.

Gehorsam ist eines der am häufigsten falsch angewendeten Worte in der traditionellen Familie. Eltern erwarten Gehorsam von ihren Kindern als wären sie beim Militär. Sie werden daheim zur absoluten Autorität und gestatten kein Mitspracherecht ihrer Untergebenen, der Kinder. Es überrascht mich, wenn ein Erwachsener einem Kind keine Rechte gewährt und keine Freiheit, es selbst zu sein, und dann geschockt ist, wenn dieses Kind gegen den Erwachsenen rebelliert. Ich habe mitangehört, wie ein Vater seinem Kind die goldene Regel gepredigt hat: "Behandele andere, wie Du selbst behandelt werden möchtest.", um kurz darauf das Kind anzuschreien, es solle auf sein Zimmer gehen. Warum sagt ihm sein gesunder Menschenverstand nicht, dass er gerade selbst gegen die goldene Regel verstoßen hat, die er zu lehren versucht? Erwachsene scheinen zu denken, dass ein Kind sich besser benehmen sollte als Erwachsene. Sie erwarten, dass sich ein Kind wie ein Engel benimmt ohne ein Mitspracherecht zu haben, wie es sein Leben lebt. Das durchschnittliche Kind verbringt ein Minimum von 18 Jahren damit, so zu leben, wie es ihm andere vorschreiben, und geht dann oft eine Beziehung ein, in welcher der Partner den Missbrauch fortsetzt.

Ich rege nicht an, dass ein Kind seine Eltern mit der Art Tyrannei beherrschen soll, mit der die meisten Eltern ihre Kinder beherrschen. Damit es zu Hause so friedlich wie möglich zugeht, bin ich der Ansicht, dass Kinder die gleichen Privilegien haben sollten wie die Eltern. Kinder sind in der Regel von Natur aus nicht ruhig, aber wenn sie nicht 24 Stunden des Tages eingeschränkt werden, verbringen sie nicht die meiste Zeit ihres Lebens mit Rebellion oder dem Ersinnen von Trotzreaktionen. Statt dessen sind sie damit beschäftigt, ihre Interessen und Talente zu entdecken und sie zu entwickeln.

Ich habe mich entschieden, in diesem Buch nicht alle Argumente gegen die körperliche Züchtigung aufzuzählen, weil es schon so viel Literatur über das Thema gibt. Ich werde nur kurz meine Gefühle über das Schlagen einer anderen Person darlegen, damit meine Meinung zu dem Thema klar ist. Ich empfinde jede Form von Schlagen als barbarisch und unnötig. Einem Kind beizubringen, dass Schlagen falsch ist, indem man es schlägt, ist wohl die perverseste Lehrmethode, die es gibt. Schläge werden eingesetzt, wenn der Erwachsene die Nerven verliert oder ihm nicht die richtigen Worte einfallen. Kaufen Sie sich ein Wörterbuch und lernen Sie sich auszudrücken. Finden Sie einen anderen Weg der Kommunikation mit Ihrem Kind, einen anderen als den Weg der Gewalt. Ich weiß, dass es Ausnahmen zu jeder Regel gibt, aber bei der körperlichen Züchtigung gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Meine Freundin Eileen sagte mir, dass ein Klaps auf den Po ihres autistischen Kindes die einzige Art war, ihn zu überzeugen, nicht auf die Strasse zu laufen. Sie musste dies nur zweimal tun und auch erst, nachdem sie alles andere versucht hatte, um ihn aufzuhalten. Sie hat mir bewiesen, dass es in einigen Fällen mildernde Umstände gibt. Aber auf Schläge zurückzugreifen, weil Ihre Eltern Sie geschlagen haben oder weil Sie das nicht schlimm finden, ist eine wenig einfühlsame Art des Denkens, und es ist an der Zeit, dass Ihr Kind nicht länger für Ihre Kommunikationsunfähigkeit zahlt.

Es gibt so viele Vorteile in einem undisziplinierten und unbeschulten Zuhause. Wenn Erwachsene sich nicht den ganzen Tag Gedanken machen, dass Regeln gebrochen werden könnten, können sie sich entspannen und ihre Familie genießen. Die Kinder müssen sich keine Sorgen machen, von ihren Eltern "erwischt" zu werden, daher leben sie ein ehrliches Leben. Sie werden nicht gezwungen, ihre Eltern anzulügen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Niemand droht oder fühlt sich bedroht. Es gibt keine starren Zeitpläne, wann man ins Bett geht, wann man aufsteht, wann man isst, wann man lernt oder wann man spielt. Das Tempo des Lebens verringert sich, es herrscht nicht mehr der hektische Rhythmus, der entsteht, wenn ein Erwachsener versucht, alles und jeden um sich herum zu steuern. Das Leben wird zu einem angenehmen Erlebnis für die ganze Familie.

Ein weiterer Vorteil ist, dass Ihr Kind Selbstdisziplin entwickeln wird. Es wird sein Leben leben, indem es seinen Interessen folgt. Wenn etwas die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen erregt und er beschließt, dass er etwas lernen möchte, kann ihn nicht von dem Lernprozess abhalten. Er ist entschlossen, so viel über das Thema zu wissen, wie er herausfinden kann. Es ist bedeutungslos, ob andere Erwachsene der Ansicht sind, dass sein Interesse merkwürdig oder uninteressant ist. Ebenso unbedeutend ist, mit wie viel Arbeit es verbunden ist, sich auf diesem Gebiet zu bilden. Er hat herausgefunden, was er möchte und verfolgt es. Genauso verhält es sich mit einem unbeschulten und undisziplinierten Kind. Es wird sich vom Leben holen, was es braucht, wenn die Eltern zurücktreten und es in Ruhe lassen.

Es braucht etwas Mut und Entschlossenheit, dem Chaos in der Familie ein Ende zu bereiten, aber es kann gelingen, wenn die Erwachsenen beschließen, dass sie es wollen.

Sie brauchen es nur zu wollen.
 

© Valerie Fitzenreiter, 2003
 

Auszug aus:

Fitzenreiter, Valerie: The unprocessed child, 2003
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia.

Weitere Informationen unter: www.ubpub.com/unprocessedchild.html.