Ist Lob Manipulation oder Anerkennung?
von Jan Hunt

In den letzten Jahren haben viele Autoren Eltern empfohlen, dass sie sowohl von Lob als auch von Kritik Abstand nehmen sollen. Sie sehen Lob als eine Form von elterlicher Manipulation des kindlichen Verhaltens – subtiler als Tadel und Kritik, aber nicht weniger schädlich. Ich habe Eltern Lob auf dieser Weise einsetzen sehen. Aber ich habe auch Situationen erlebt, in denen ich es als normal und gesund empfinde. Nach langer Überlegung und Diskussionen mit Kollegen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass man "das Kind mit dem Bade ausschütten würden", wenn man völlig auf Lob verzichten würde. Die schädliche, künstliche Variante des Lobens sollten wir vermeiden, doch es existiert auch eine authentischere Variante, die von Herzen kommt und die unseren Kinder das gibt, was sie am nötigsten brauchen: unsere aufrichtige Unterstützung aus Liebe.

In Diskussionen wie dieser ist es unerlässlich, die Begriffe zu definieren. Mit "künstlichem Lob" meine ich Worte, die absichtlich benutzt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu verstärken, in Richtung eines Ziels, das sich die Eltern gesetzt haben, und nicht unbedingt das Kind.

Beispiele:
                    "Bedanke Dich bei Oma. Braves Mädchen!"
                    "Sei ein guter Junge und gib Deiner Schwester das Spielzeug... so ist brav!"

Mit "authentischem Lob" meine ich liebende Worte, die spontan und warm aus dem Herzen der Eltern kommen, ohne darüber nachzudenken, das Verhalten des Kindes manipulieren zu wollen.

Beispiele:
                    "Wow! Was für eine wunderschöne Karte Du mir gebastelt hast! Danke!"
                    "Oh, Du hast den Boden gefegt! Das ist aber eine schöne Überraschung!"

Der Hauptunterschied zwischen dieser beiden Arten des Lobens liegt in unserer Intention. Drücken wir einfach nur unsere Gefühle der Freude in dem Moment aus, oder ist es unsere Absicht, das zukünftige Verhalten des Kindes durch das überlegte Aussprechen oder Vorenthalten unseres Lobes zu steuern? Wenn wir unsere Liebe und Anerkennung nur austeilen, wenn sie "brav" sind, und sie vorenthalten, wenn sie "böse" sind, nutzen wir in erheblichem Maße unsere Macht über unsere Kinder aus. Wir senden auch die schädliche Botschaft aus, die von allen Strafmaßnahmen ausgeht: die Liebe zum Kind ist an Bedingungen geknüpft; es wird nur geliebt, wenn es auch unsere Anerkennung verdient. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, diese Art der Manipulation zu vermeiden. Aber wenn wir beim Versuch, Manipulation zu vermeiden, dann vor positiven Aussagen irgendeiner Art zurückscheuen und den Kindern unser wahres Selbst vorenthalten, verpassen wir die Gelegenheit, eine echte Beziehung zu unserem Kind aufzubauen. Wir sind in gewissem Sinne nicht mehr voll präsent für das Kind. Auf diese Weise geben wir vielleicht die schönsten Momente in einer Beziehung auf: die spontanen Worte und Gesten, durch die wir die Liebe und Freude aneinander feiern.
 

© Copyright Jan Hunt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/praise.html